Unterstützung, Kohäsion Und Die Neuen Grenzen Europas - Ein Aufruf Zur Reform Der Politik Der Europäischen Union

3 November 2002
Überblick

Während die Periode des Wiederaufbaus und der Stabilisierung sich ihrem Abschluss nähert, sieht sich der westliche Balkan einer sich bereits abzeichnenden sozialen und wirtschaftlichen Zerrüttung ausgesetzt, welche die Verwirklichung einiger der Hauptziele der Europäischen Union in dieser strategisch wichtigen Region ernsthaft gefährdet. Die Krise tritt zu einem Zeitpunkt auf, an dem die bisherige europäische Unterstützung reduziert wird und die Länder der Region sich aus dem Erweiterungsprozess der Union ausgeschlossen sehen. Wenn die Region nicht zu einer Insel der Instabilität mitten im europäischen Projekt werden soll, müssen die bestehenden europäischen Politikinstrumente zu einem echten und dauerhaften Engagement zur Lösung der chronischen wirtschaftlichen und sozialen Probleme der Region ausgebaut werden. Die Europäische Union sollte den Ländern des westlichen Balkans ein deutliches Signal dafür geben, dass die in Aussicht gestellte Europäisierung nicht nur eine Illusion ist.

Die für den Juni 2003 unter griechischer EU-Präsidentschaft geplante Gipfelkonferenz Zagreb II wäre die optimale Gelegenheit, ein solches Signal zu senden und könnte einen Wendepunkt in den Beziehungen zwischen der Union und dem westlichen Balkan markieren:

  • die Europäische Union sollte unmissverständlich erklären, dass ihr Engagement für die wirtschaftliche und soziale Kohäsion Europas sich ausdrücklich auch auf die Länder des westlichen Balkans erstreckt, und dass auf Seiten der Union die Bereitschaft besteht, diesen Gesellschaften dabei zu helfen, den Anschluss an die neuen Mitgliedsstaaten nach 2004 nicht zu verlieren.
  • Der Stabilisierungs- und Assoziierungsprozess sollte um das Element der wirtschaftlichen Kohäsionspolitik erweitert werden. Ein solches Engagement würde zusätzliche Anstrengungen auf Seiten sowohl der Union als auch der Staaten des westlichen Balkans erfordern. Dazu wäre eine Reform der Unterstützungsmethodik und der Hilfsinstrumente sowie eine Umschichtung vorhandener finanzieller Mittel und menschlicher Ressourcen notwendig.
  • Jegliche zukünftige Unterstützung der Länder des westlichen Balkans sollte in Übereinstimmung mit denen den Strukturfonds der EU zugrunde liegenden Entwicklungsprinzipien erfolgen: örtliche Kofinanzierung, institutionalisierte Partnerschaften zwischen der Kommission und den Behörden auf staatlicher und örtlicher Ebene sowie wirksame mehrjährige Planung der Entwicklungsmaßnahmen. Diese Prinzipien sollten ab dem Jahr 2004 regionsweit auf einen wachsenden Anteil der Hilfeleistungen der Europäischen Union angewendet werden und dabei von einem Zusammenhang mit dem Fortschritt einzelner Staaten in Richtung Beitritt gelöst werden.
  • Auf finanzieller Ebene sollte die Union die Verpflichtung abgeben, den Gesamtbetrag der Unterstützung an die Länder des westlichen Balkans nicht zu verringern, sobald die politische Stabilität gesichert ist und der Wiederaufbau erfolgreich abgeschlossen wurde. Die Unterstützung der westlichen Balkanregion sollte auf dem Niveau von 2000 oder 2001 (jährlich etwa 900 Millionen Euro) gehalten werden. Diese Mittel könnten aus zwei Quellen stammen: CARDS-Gelder (die nach derzeitiger Planung im Jahr 2003 auf 700 Millionen Euro und 2005/6 auf500 Millionen Euro reduziert werden sollen); und ab 2004 etwa 400 Millionen Euro jährlich aus der Drei-Milliarden-Zuteilung für Beitrittskandidaten, die verfügbar wären, wenn die jetzigen Kandidaten zu EU-Mitgliedern werden.
  • Um dies zu erreichen, müsste die Europäische Union ihre bestehenden institutionellen Werkzeuge überdenken. Die Staaten des westlichen Balkans könnten unter die Verantwortlichkeit eines Direktorats für EU-Erweiterung nach 2004 gestellt werden. Die Europäische Agentur für Wiederaufbau könnte nach 2004 in eine Europäische Agentur für Entwicklung umgewandelt werden, mit einem veränderten Mandat und der Zuständigkeit für alle Staaten der Region. Der Stabilitätspakt könnte zu einem Beschäftigungs- und Kohäsionspakt werden. Der EU-Pfeiler der Mission der Vereinten Nationen zur Übergangsverwaltung des Kosovo (UNMIK) und das Büro des Hohen Repräsentanten in Bosnien könnten neue Aufgaben erhalten. Es bestünde auch die Möglichkeit, dass die Union diese nachkonfliktlichen Initiativen auslaufen lässt und deren Zweck mit der Entwicklung der Balkanstaaten zu Kandidaten für die EU-Mitgliedschaft für erfüllt erklärt.

 

Über die Kampagne "Westlicher Balkan 2004"

Die diesem Papier zugrunde liegenden Konzepte wurden erstmals im Oktober 2002 vor dem ESI Lessons Learned and Analyse Unit Advisory Board in Brüssel vorgestellt. Mitglieder dieses Gremiums sind Martti Ahtisaari, Peter Arbenz, Andy Bearpark, Carl Bildt, Jakub Fink, Gary Matthews, Alain Le Roi, Erik Pierre und Alex Rondos. Eine erste Fassung dieses Papiers wurde auf der von Wilton Park und ESI gemeinschaftlich organisierten Konferenz A New European Moment? Linking South East Europa Into the EU vorgestellt, die vom 14. bis zum 16. Oktober 2002 in Wilton Park stattfand. Diese endgültige Fassung wurde von ESI für eine Ideenkonferenz zur Balkanpolitik mit dem Hohen Repräsentanten für Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union, Javier Solana, am 5. November 2002 in Brüssel, erstellt.

Wenn Sie Fragen haben oder weitere Information über diese Vorschläge und die Kampagne Westlicher Balkan 2004 wünschen, wenden Sie sich bitte an das ESI-Büro in Berlin, berlin@esiweb.org, Tel: (+49 30) 53 21 44 55 oder an den Direktor von ESI und des LLA, Gerald Knaus (+ 49 173) 6197797. 

Einleitung

Die vorhandenen Strategien der Europäischen Union und ihrer Mitgliedsstaaten sind für die Bewältigung der neuen Herausforderungen, die in der westlichen Balkanregion zu Tage treten, ungeeignet.

Die vorhandenen Politikinstrumente sind auf den nachkonfliktlichen Wiederaufbau und die Stabilisierung der Region ausgerichtet.  Mit ihrer Hilfe wurde die Bedrohung eines ethnischen Konflikts in den Hintergrund gedrängt, sodass sich die Region zu einem weitaus vielversprechenderen Ort entwickeln konnte, als dies noch vor fünf Jahren der Fall war. Sie sind jedoch nicht geeignet, die der Instabilität zugrunde liegenden Ursachen effektiv zu bekämpfen. Die Bedrohung liegt inzwischen nicht mehr in ethnischem Hass, nationalistischem Extremismus oder militärischen Konflikten, sondern in der Gefahr einer wirtschaftlichen und sozialen Zerrüttung. Die Verwirklichung einiger der Hauptziele der Europäischen Union in dieser strategisch wichtigen Region werden dadurch ernsthaft in Frage gestellt. Zu diesen Zielen gehören eine handlungsfähige Regierung in Bosnien und Herzegowina und im Kosovo, politische Stabilität und interethnischer Friede in der Ehemaligen Jugoslawischen Republik Mazedonien, wirtschaftliche und politische Reformen sowie die Stärkung der Rechtsordnung in den Staaten des westlichen Balkans.

Die bevorstehende "Krise des Jahres 2004" wird durch drei Faktoren bedingt. Der erste Faktor ist die schmerzhafte, aber unvermeidliche und durch das Auslaufen der Aufbauhilfe erforderliche Anpassung im politischen und wirtschaftlichen Leben Bosniens und des Kosovo. Hinzu kommen die wachsenden Arbeitslosenzahlen in der Region, die darauf zurückzuführen sind, dass die ökonomischen Veränderungen einen verheerenden  Kollaps der sozialistischen Industrie zur Folge hatte, wofür der junge private Sektor bislang kaum Ausgleich schafft. Der dritte Faktor ist die wachsende Unzufriedenheit der Bevölkerung mit den demokratischen Prozessen, die nicht auf die Bedürfnisse der Bürger eingehen und den sozialen und wirtschaftlichen Niedergang nicht aufhalten können.

Die Gefahr einer erneuten Instabilität der westlichen Balkanregion ist äußerst besorgniserregend für die Europäische Union. Die Institutionen und Mitgliedsstaaten der EU engagieren sich heute viel intensiver in der Region als je zuvor. Sie sind mit Abstand die größten Geber und stellen den Löwenanteil der Friedenstruppen in Bosnien, Kosovo und Mazedonien. Derzeit wird eine neue Polizeimission in Bosnien eingesetzt. Der Hohe Repräsentant in Bosnien und der führende internationale Vermittler in Mazedonien sind beide Sonderbeauftragte der EU, und Kosovos Wirtschaft steht unter Treuhandverwaltung des europäischen UNMIK-Verantwortungsbereichs. Mit dem Stabilisierungs- und Assoziierungsprozess hat die Union den Ländern der Region das Versprechen gegeben, dass sie zumindest "potentielle" Beitrittskandidaten sind. Mit dem allmählichen Rückzug der Vereinigten Staaten ist die westliche Balkanregion zudem zu einem Prüfstein für eine spezifisch europäische Vision der Verbreitung von Stabilität und Wohlstand auch außerhalb der eigenen Grenzen geworden.

Auf der Gipfelkonferenz in Zagreb im November 2000 bot die Europäische Union den Staaten des westlichen Balkans die Vision einer gemeinsamen "Zielrichtung Europa". Die Rhetorik der "Europäisierung" liegt vielen der europäischen Projekte in der Region zugrunde - von der nachkonfliktlichen Staatenbildung in Bosnien und Kosovo über die inter-ethnische Vermittlung in Mazedonien bis hin zu Entwicklung und wirtschaftlichem Wandel in Serbien und Albanien. Dennoch bleibt das den Ländern der Region von der EU gegebene Versprechen seltsam substanzlos. Die Staaten des westlichen Balkans haben keine Aussicht auf eine baldige Eröffnung formeller Beitrittsverhandlungen mit der Europäischen Union. Unabhängig von ihrem formellen Status im Stabilisierungs- und Assoziierungsprozess sehen sie einer drastischen Verringerung der Hilfszahlungen entgegen. Am schwersten wiegt jedoch die Tatsache, dass sie von dem größeren europäischen Projekt zur Stärkung der wirtschaftlichen und sozialen Kohäsion des Kontinents ausgeschlossen bleiben.

Die Herausforderungen, denen die Länder des westlichen Balkans in der nahen Zukunft ausgesetzt sind, unterscheiden sich nicht wesentlich von denjenigen, denen die Europäische Union durch den Beitritt der neuen Mitgliedsstaaten entgegensieht oder auch jenen, die sie seit Jahren auf dem eigenen Territorium bewältigen muss. Die Europäische Union beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit der Entwicklung von Methoden, mit deren Hilfe tiefsitzende wirtschaftliche und soziale Probleme in den weniger begünstigten Regionen Europas angegangen werden können. Der Kernpunkt der Europäischen Union liegt gerade in ihrer Entschlossenheit, wirtschaftliche und soziale Ungleichheiten innerhalb ihrer Grenzen nicht zu dulden, sondern aktive Anstrengungen mit dem Ziel wirtschaftlicher und sozialer Kohäsion zu unternehmen. In der Verfolgung dieses Ziels wurden umfangreiche Ressourcen mobilisiert und erhebliche Expertise gewonnen, vor allem durch die von der Europäischen Kommission verwalteten Strukturfonds.

Die Krise des Jahres 2004 kann durch weitere Wiederaufbauhilfe nicht vermieden werden. Die Methodologie der Strukturfonds ist genau auf die Bewältigung der Probleme des industriellen Niedergangs und der ländlichen Unterentwicklung ausgerichtet, welche die  Länder des westlichen Balkans heute dominieren. Das Prinzip der Zusätzlichkeit wurde entwickelt, um Verzerrungen des inländischen Ausgabeverhaltens zu verhindern, wie sie in Bosnien oder Montenegro so deutlich geworden sind. Umfassende Prozeduren für die Projektauswahl wurden ausgearbeitet, um örtliche und regionale Regierungskapazität zu fördern und heimische Behörden dazu zu ermutigen, die eigenen Bedürfnisse zu ermitteln und entsprechend zu planen – dringende Entwicklungsbedürfnisse in der gesamten Region.

Ohne ein ernsthaftes Bekenntnis der Europäischen Union zur Schaffung einer neuen Generation von Politikinstrumenten wird sich die Region zunehmend von den sich in den umliegenden Ländern - von Slowenien über Ungarn, Rumänien und Bulgarien bis hin zu Griechenland im Süden - abspielenden Entwicklungen isoliert sehen. Während sich die Nachbarländer weiterentwickeln, wird die Kapazität der westlichen Balkanländer, dem europäischen Projekt beizutreten, mehr und mehr schwinden. Die Europäische Union muss zwischen zwei klar umrissenen Alternativen entscheiden: sich entweder ernsthaft in der Bekämpfung der Grundursachen der Instabilität zu engagieren, oder weiterhin Ressourcen für die kurzfristige Lösung von immer wieder aufflammenden Konflikten in der gesamten Region aufzuwenden.

Das Ende des Wiederaufbaus

Es ist bemerkenswert, dass gerade die Gebiete, welche die großzügigste Wiederaufbauhilfe erhalten haben - Bosnien und Kosovo - der Krise des Jahres 2004 am stärksten ausgesetzt sind. Die Mobilisierung internationaler Unterstützung zur Beseitigung der sichtbaren Spuren des Krieges war beachtlich und in vieler Hinsicht erfolgreich. Doch erst jetzt, während die Wiederaufbauprogramme allmählich auslaufen, beginnen die verborgenen Dynamiken und die unbeabsichtigten Auswirkungen dieses massiven Zustroms internationaler Hilfe zu Tage zu treten.

Eine der alarmierendsten Nebenwirkungen des Wiederaufbauprogramms in Bosnien ist die grobe Verzerrung im inländischen Ausgabeverhalten, welche nun die Stabilität des Staates an sich gefährdet. Die Weltbank berichtete kürzlich, dass die Ausgaben des öffentlichen Sektors in Bosnien 63 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) erreichen und somit nicht weniger als 20 Prozent über dem regionalen Durchschnitt liegen. Diese fließen vor allem in die Gehälter von öffentlichen Angestellten und in Ausgleichszahlungen an Kriegsinvaliden sowie an Familien gefallener Soldaten. Aufbau und Aufrechterhaltung von Dienstleistungen für Bürger kommen zu kurz. Der Investitionsaufwand wird fast ausschließlich der internationalen Gemeinschaft überlassen und nimmt daher im Verein mit den Hilfsgeldern rapide ab.

Diese Verzerrungen wurden durch das Ausmaß direkter internationaler Haushaltsunterstützung an verschiedene öffentliche Institutionen und Programme, in Kombination mit dem durch die Übernahme der staatlichen Investitionsverantwortung durch die internationale Gemeinschaft entstandenen Substitutionseffekt, ermöglicht. Der Umfang des Substitutionseffekts ist enorm. Zwischen 1996 und 2000 gab der bosnische öffentliche Sektor 9,2 Milliarden US$ für Gehälter und Ausgleichszahlungen aus - mehr als 48 Prozent des durchschnittlichen jährlichen Bruttoinlandprodukts. Wären diese Ausgaben auf 40 Prozent des BIP (den Durchschnittssatz der öffentlichen Ausgaben in der Region), begrenzt worden, hätten im Laufe dieses Fünfjahreszeitraums zusätzliche 1,58 Milliarden US$ inländischer Mittel für Investitionen der öffentlichen Hand zur Verfügung gestanden. Daran lässt sich erkennen, in welchem Ausmaß internationale Wiederaufbauhilfe für den Aufbau einer öffentlichen Verwaltung zweckentfremdet wurde, die nun nicht länger aufrechterhalten werden kann.

Anzeichen für einen finanziellen Notstand mehren sich auf den unteren Ebenen der bosnischen Regierung, in den Kantonen und Gemeinden, welche die primäre Verantwortung für öffentliche Dienstleistungen wie das Bildungssystem, das Gesundheitswesen, und die Überreste der sozialen Fürsorge tragen. Viele Gebiete in beiden Entitäten verfügen letztendlich nicht einmal über das grundlegendste soziale Netz für die Ärmsten und Bedürftigsten. Die begrenzten verfügbaren Daten lassen befürchten, dass nicht mehr als ein Viertel der ärmsten Bevölkerungsschichten in den letzten Jahren Unterstützungszahlungen erhalten hat. Die meisten Kantone haben alle Programme zum Schutz der Kinder eingestellt, und es gibt so gut wie keine Arbeitslosenunterstützung. Sogar in Bereichen, welche die Regierungen der beiden Entitäten einst als unverzichtbar für ihre Interessen ansahen, werden nun die Finanzierungsmittel zugunsten der Aufrechterhaltung der Gehälter im öffentlichen Dienst gekürzt. Mehr als 80 Prozent des bosnischen Verteidigungsetats wird für Gehaltskosten aufgewendet, verglichen mit einem Durchschnitt von nur 40 Prozent in den NATO-Staaten, was aufgrund des daraus folgenden Verfalls der Ausrüstung gleichbedeutend mit einer rapiden Entwaffnung des Landes ist. Während die Deaktivierung militärischer Gerätschaften an sich sicher von vielen begrüßt würde, ist die Unterfinanzierung von Stromversorgung, Transportinfrastruktur und Privatwirtschaft besorgniserregend.

Weder die örtlichen Finanzbehörden noch die internationale Gemeinschaft haben eine klare Vorstellung über das genaue Ausmaß der öffentlichen Finanzkrise, die sich in den kommenden zwei Jahren anbahnt. Die internationalen Finanzinstitutionen haben wiederholt betont, dass sie über keine genauen Zahlen über den Umfang der Zahlungsrückstände und der öffentlichen Verschuldung auf den unteren Regierungsebenen und in den öffentlichen Unternehmen verfügen. Bekannt hingegen ist, dass die ausländische Tilgungs- und Zinslast von etwa 75 Millionen Euro im Jahr 2000 auf beinahe 120 Millionen Euro im Jahr 2003 steigen wird, zur gleichen Zeit also, in der die internationalen Hilfszahlungen dramatisch reduziert werden. Die Weltbank geht davon aus, dass sogar unter Voraussetzung der optimistischsten Wachstums- und Reformszenarien die öffentlichen Ausgaben um nie da gewesene 6,5 Prozent des BIP gekürzt werden müssten. Wenn dies nicht erreicht wird, werden Bosniens makroökonomische Stabilität und seine Fähigkeit, ausländische Zins- und Tilgungszahlungen zu leisten, fraglich. Die Frage, ob Bosnien seine Währung - die wichtigste ökonomische Errungenschaft der letzten Jahre und ein Symbol des bosnischen Staatswesens - unter der Währungsratvereinbarung aufrechterhalten kann, bleibt offen.

Die Wiederaufbauhilfe, die für die Beseitigung der unmittelbaren Kriegsschäden in Bosnien und dem Kosovo unabdingbar war, ist zu einer Art Droge geworden, die das Verhalten und die Erwartungen der Empfänger radikal verändert und eine kurzlebige Illusion des Wohlstands geschaffen hat.

Transition - wohin?

Die ökonomische Beratung, welche die Balkanstaaten in den letzten Jahren erhalten haben, ging von einer bestimmten Ereignisabfolge aus: zuerst käme die Wiederaufbauhilfe zur Wiederherstellung eines vorkonfliktlichen Status Quo, gefolgt von einem Paket rechtlicher und institutioneller Reformen, die unter der Überschrift "wirtschaftlicher Transition" den Weg für neuen Wohlstand durch Ausbau der Privatwirtschaft freigeben würden. Herzteil dieser Agenda des Übergangs waren die drei Grundsätze: stabile Währung, Privatisierung und Eliminierung offener und versteckter öffentlicher Unternehmenssubventionen. Heute sehen sich die Staaten des westlichen Balkans mit einer Realität konfrontiert, die durch die Instabilität des vergangenen Jahrzehnts überdeckt worden war: dem Ausmaß ihres wirtschaftlichen Niedergangs. Es gibt Anzeichen, dass die Region nach dem Abschluss der Privatisierung nun in einem neuen Gleichgewicht aus geringer Produktion und hoher Arbeitslosigkeit verharrt.

Die Weltbank veröffentlichte kürzlich eine Definition des Endes der Übergangsperiode. Eine abgeschlossene Transition bedeutet demnach die Gleichheit der Voraussetzungen der alten sozialistischen Unternehmen und der neuen Markteinsteiger. Sobald die alten Unternehmen keine besonderen Vorteile in Form von öffentlichen Subventionen oder loseren Budgetbeschränkungen mehr erhalten, und sobald die Unterschiede in der Produktivität nicht mehr auf die Unternehmensgeschichte zurückgeführt werden können, ist der Übergang abgeschlossen. Dies stellt eine nützliche Definition dar, die das Konzept "Übergang" von anderen Formen des sozialen oder wirtschaftlichen Wandels löst. Sie zeigt jedoch auch, dass nicht notwendigerweise eine ursächliche Verbindung zwischen dem Übergang an sich und wirtschaftlichem Wachstum besteht. Wie die Weltbank feststellt, kann eine Gleichheit der Voraussetzungen auf jeglicher Ebene der Entwicklung oder des Pro-Kopf-Einkommens erzielt werden.

Nach globalen Maßstäben ist die Armut in Südosteuropa noch nicht als schwerwiegend anzusehen. In den Städten und Großstädten kann man noch immer Leute finden, die dazu in der Lage sind, den Lebensstandard von vor einem Jahrzehnt aufrechtzuerhalten. Dies trifft insbesondere auf Orte zu, die beträchtliche Kapitalzuflüsse aus dem Ausland erhalten - entweder durch Überweisungen oder das Vorhandensein einer großen internationalen Mission. Dieser Kreis wird jedoch zunehmend kleiner und befindet sich mehr und mehr im Belagerungszustand. Es ist nicht die Armut an sich, welche die politische Stabilität bedroht, sondern die Panik, die durch sinkenden sozialen Status und den Mangel an klaren Zukunftsaussichten verursacht wird. Wenn ein soziales Netz so gut wie nicht vorhanden ist, ist die Bevölkerung auf Beschäftigung angewiesen, um sich oberhalb der Armutsgrenze halten zu können. Wenn das Ringen um knappe Ressourcen – z. B. die Beschäftigung im öffentlichen Dienst – ethnische Aspekte annimmt, wie es in Mazedonien in letzter Zeit der Fall ist, kann dies enormes Konfliktpotential freisetzen.

Das Ende der industriellen Gesellschaft?

Das vergangene Jahrzehnt beinhaltete den dramatischen Kollaps der Beschäftigung in den unter der sozialistischen Gesellschaftsordnung aufgebauten Industrien. Die Länder des westlichen Balkans sind gezeichnet von den Trümmern der einstigen Vorzeigeindustrien, die den Wechsel in die neue Ära nicht überlebt haben.

Die bosnische Stadt Zenica beispielsweise ist geprägt von den rostigen Überbleibseln des gigantischen Stahlwerks, das einst den Grundstein für die Entwicklung der Stadt bildete. Das Stahlwerk finanzierte den Bau von 8 000 Wohnungen und bot seinen Beschäftigten eine komplette soziale Infrastruktur – von sozialen Begegnungsstätten und Sportvereinen über Bildungseinrichtungen bis hin zu Ferienangeboten. Der Handelsarm des Stahlwerks, Besitzer des beeindruckendsten Hochhauses der Stadt, schloss einst komplexe Handelsgeschäfte mit Abnehmern in der ganzen Welt ab und existiert heute nur noch durch die Vermietung seiner Büros und den Import von Kosmetika und Textilien aus den Nachbarländern. Das Stahlwerk vegetiert offiziell mit nur einem Viertel der Vorkriegsbeschäftigten vor sich hin, von denen jedoch nur ein Teil auch tatsächlich Gehalt bezieht.

Ähnliche Geschichten finden sich überall in den industriellen Gebieten des ehemaligen Jugoslawien: von Smederevo (Serbien) bis Peja (Kosovo), von Tuzla (Bosnien) bis Kicevo (Mazedonien). Von den 1 688 ehemals volkseigenen Betrieben in Mazedonien wurden bis auf 85 alle verkauft oder liquidiert. Das Interesse ausländischer und sogar heimischer Investoren war äußerst begrenzt. Die meisten Unternehmen wurden daher durch eine Art Insiderprivatisierung, indem Anteile als Ersatz für nichtgezahlte Gehälter an die Beschäftigten verteilt oder zu extrem ermäßigten Preisen, zahlbar über viele Jahre hinweg, an die Geschäftsleitung verkauft wurden. Wie vorherzusehen war, haben die neuen Eigentümer versucht, ihre eigene Position durch Widerstand gegen jedwede Restrukturierung der Unternehmen zu schützen. Dennoch ist die industrielle Beschäftigungszahl um mehr als die Hälfte eingebrochen, und weitere Arbeitsplatzverluste sind unumgänglich.

Während der gesamten 90er Jahre erlebte Serbien-Montenegro einen gnadenlosen wirtschaftlichen Niedergang. Michael Palairet hat die wirtschaftlichen Folgen der Ära Milosevic aufgelistet:

"Das Kapital in so gut wie allen Wirtschaftsbereichen wurde Jahr für Jahr dezimiert, wodurch diese mehr und mehr veralteten und sich die Effizienz der industriellen Technologie mehr und mehr verringerte. Die grundlegende Verschiebung in der wirtschaftlichen Aktivität erfolgte in Richtung Landwirtschaft. In der Landwirtschaft selbst war eine Verschiebung von Tierhaltung zu Ackerbau, zu weniger technologieintensiven Ackermethoden und von der Marktproduktion hin zur Subsistenzwirtschaft zu beobachten. Die wirtschaftliche Aktivität verschob sich weg von Industrie und Handwerk, und innerhalb der Industrie von technologiedominierten Sparten im Ingenieurwesen und der Konsumgüterproduktion hin zur Produktion von einfachen Verbrauchsgütern und Grundstoffindustrien… Die Umkehrung des Trends zur Unterentwicklung wird kostenintensiv sein, denn der Vorrat an ungenutzten Sachwerten und menschlichen Fähigkeiten ist allmählich versickert."

In der Republika Srpska in Bosnien-Herzegowina ist die Situation noch dramatischer. Von 66 Großunternehmen (Unternehmen, die den Privatisierungsprozess mit mehr als 400 Mitarbeitern einleiteten) konnten gerade fünf an ernsthafte einheimische oder internationale Investoren verkauft werden. Die anderen erwiesen sich entweder als unverkäuflich oder wurden über einen Prozess der Voucher-Privatisierung entstaatlicht, wodurch weder frisches Kapital einfloss noch eine neue Geschäftsleitung entstand. Trotz fortbestehender großzügiger Budgethilfen in Form von Umschuldung und Nichteinziehung von Steuern und Versorgungskosten sind diese Unternehmen so illiquide, dass sie nicht in der Lage sind, Rohmaterialien zu erwerben, was zu einem Einbruch der Produktion geführt hat.

In der gesamten Region beschreiben Unternehmensleiter und örtliche Politiker den Privatisierungsprozess als "katastrophal langsam". In Wirklichkeit ist der wirtschaftliche Übergang die Zukunft, die schon vorüber ist. Die einzige noch mögliche Entwicklung für den Großteil der Unternehmen in der Region, ob nun privatisiert oder nicht, ist der Konkurs. Auf diesem Wege würden zumindest ihre Sachwerte für die Nutzung durch die Privatwirtschaft verfügbar. Dennoch werden in der gesamten Region nur äußerst wenige Unternehmen liquidiert. In einem politischen Klima, das von allgemeiner Arbeitslosigkeit bestimmt wird, ist es nicht gerade einfach für Politiker, ihren Wählern klarzumachen, dass die alte Wirtschaft nicht zurückkehren wird. Was hier zur Disposition steht, ist nicht nur die Beschäftigung in dem einen oder dem anderen Wirtschaftszweig, sondern das Modell der modernen Industriegesellschaft an sich.

Ein dynamischer privater Sektor?

In den Ländern des westlichen Balkans tritt eine neue Privatwirtschaft zu Tage, die jedoch hauptsächlich aus kapitalintensiven Kleinunternehmen in Handel und Bauwirtschaft besteht. Die meisten neuen Privatunternehmen basieren auf der Familie als der grundlegenden Geschäftseinheit; der dominierende Ausdruck urbaner Wirtschaft ist der "Tante-Emma-Laden", und Geschäftsleute fungieren gleichzeitig als ihre eigene Bank und das eigene Versicherungsunternehmen.

Viele ausländische Beobachter waren erstaunt, wie schnell im Kosovo nach dem Konflikt von 1999 ein neuer privater Sektor entstand. Doch zum großen Teil war dies nur eine Rückkehr zum privaten Sektor der Vergangenheit, dessen Wurzeln in vorsozialistischen Zeiten lagen, der die Ära Jugoslawien als mala privreda (kleine Privatwirtschaft) überstanden hatte und in den frühen neunziger Jahren energisch expandierte, um ab 1995 in Stagnation zu verfallen. Schätzungen zufolge wurden in den Jahren 1999/2000 im Nachkriegs-Kosovo etwa 444 Millionen Euro für die Wiederherstellung von Wohnhäusern, öffentlichen Gebäuden und der Infrastruktur ausgegeben, wobei 21 Prozent der Materialien vor Ort erworben wurden. Solche nachkonfliktlichen Baubooms sind jedoch von kurzer Dauer. Bereits 2001 betrugen die Ausgaben für den Wiederaufbau in Kosovo nur noch 40 Prozent des Vorjahreshöchststands. In diesem Jahr wird nur noch mit Ausgaben in Höhe von 13 Prozent des Niveaus von 2001 gerechnet. Einige örtliche Unternehmer waren in der Lage, als Importeure schnell zu Wohlstand zu gelangen;  es gab jedoch kaum Ansätze, langfristige Geschäftsstrukturen zu entwickeln.  Abgesehen von den Baumaterialien und einem kleinen Lebensmittelverarbeitungssektor gibt es kaum nennenswerte Produktion.

Eines der hauptsächlichen Hindernisse für die Entwicklung der Privatwirtschaft ist der ambivalente Status der Region: Sie verfügt weder über ein nach internationalen Maßstäben besonders kostengünstiges Geschäftsklima, noch über die moderne Technologie, die für die Steigerung der Produktivität und die Wettbewerbsfähigkeit auf dem europäischen Markt notwendig wäre. Ein kürzlich erschienener Überblick über die Textilwarenindustrie in Bosnien vermerkt, dass "nur diejenigen Unternehmen, die zu anhaltenden Investitionen sowohl in die Produktionsstätte als auch in innovative Produkte in der Lage sind, einen Anteil am internationalen Markt erlangen werden. In den kostengünstigen Schwellenländern Südostasiens können Textilwaren zu Preisen erworben werden, mit denen die Textilproduzenten in Bosnien-Herzegowina niemals konkurrieren könnten." Wenn die Alternative darin besteht, entweder bedeutende Beträge in produktive Technologien zu investieren, oder den Lebensstandard noch weiter absinken zu lassen, um Lohnkosten zu senken, scheint die Region standardmäßig den letzteren Weg gewählt zu haben. In der vorausschaubaren Zukunft werden Produktivitätsgewinne in den meisten Schlüsselsektoren in Mazedonien, Serbien oder Bosnien von Arbeitsabbau (in Textilindustrie, Bergbau, Einzelhandel, kommerzieller Landwirtschaft) herstammen.

Die industrielle Krise in Albanien ist ebenso schwerwiegend. Ein kürzlich erstellter Bericht der Europäischen Kommission betont, dass der industrielle Sektor schwach und sein derzeitiger Beitrag zum Wachstum des allgemeinen BIP begrenzt ist. "Die Industrien sind oft veraltet, nicht lebensfähig und außer Stande, mit der europäischen Konkurrenz mitzuhalten. Albanien muss eine neue nationale industrielle Basis schaffen." Albaniens Transport- und Wasserversorgungsinfrastruktur ist unzureichend und die gegenwärtige Energiekrise stellt "eine ernsthafte Belastung für die wirtschaftlichen Aussichten" dar. Unter diesen Umständen ist es nicht weiter verwunderlich, dass die Exportleistung geringfügig bleibt und das Handelsdefizit im Jahre 2001 eine Milliarde Euro erreichte. Daher ist Arbeitskraft das Hauptexportgut  Albaniens.

Der schlechte Zustand der Infrastruktur ist ein ernsthaftes Hindernis für die Entwicklung des privaten Sektors in vielen Teilen der Region. Es ist nicht klar, ob die Nachkriegs-Wiederaufbauprogramme nachhaltige Verbesserungen in der Qualität der örtlichen Infrastruktur zur Folge hatten. In Bosnien und Kosovo haben internationale Geber Straßen, Stromversorgungsnetze, Telekommunikations- und Wassersysteme in einem beeindruckenden Maßstab wiederhergestellt. Aufgrund der Dringlichkeit humanitärer Missionen neigten die Geber jedoch dazu, die weit verbreiteten Probleme in der gesellschaftlichen Verwaltung und Finanzierung dieser Systeme eher zu um-, als sie anzugehen. Einheimische Institutionen sind nun kaum in der Lage, die grundlegendsten Betriebskosten aufzubringen, leisten keine eigenen Investitionen und versäumen oft sogar die routinemäßigen Wartungsarbeiten. Trotz der massiven internationalen Investitionen verschlechtert sich die Infrastruktur der gesamten Region beständig.

Der begrenzte private Sektor spiegelt ein umfassenderes Problem in der öffentlichen Verwaltung wider. Die öffentlichen Institutionen sind nicht in der Lage, die Infrastruktur und Leistungen zu erbringen, die private Unternehmer zur Senkung ihrer Produktionskosten benötigen. Das Fehlen eindeutiger Eigentumsrechte, ein schwaches Rechtssystem, der Mangel an öffentlicher Finanzierung, die unterentwickelten Transport-, Telekommunikations- und Wasserversorgungssysteme sowie das Fehlen effektiver Planungskapazität erhöhen sämtlich die Kosten des neuen privaten Unternehmertums. Doch auch unter der progressivsten und engagiertesten Regierung fiele es schwer zu sehen, woher der Antrieb für ein Wachstum der privatwirtschaftlichen Beschäftigung in auch nur annähernd der Größenordnung kommen sollte, die für den Ausgleich der Auswirkungen der Deindustrialisierung vonnöten wäre.

Menschen im Aufbruch

Die Auswirkungen dieser Deindustrialisierung sind ebenso tiefgreifend wie die Einführung des sozialistischen Systems und haben einen profunden Zerrüttungseffekt auf die Gemeinden in der gesamten Region. Urbanisierung war der beherrschende soziale Trend des letzten halben Jahrhunderts, im Laufe dessen Millionen von Menschen auf der Flucht vor Überbevölkerung und Unterentwicklung in den ländlichen Gebieten und auf der Suche nach Arbeit und neuen Lebensstilen in die Städte und Großstädte zogen. Dies stellte eine umfassende soziale Revolution dar, in deren Verlauf die Bevölkerungsverteilung und die Erwartungen der neuen urbanen Mittelklassen von den Mustern der sozialistischen Industrialisierung bestimmt wurden.

Da die industrielle Beschäftigung schwindet, gibt es nun nicht viel, was die Menschen in den alten Industriezentren halten könnte, und so macht sich die Bevölkerung einmal mehr auf den Weg. Für die Millionen, die im Laufe der Konflikte der neunziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts ihre Heimat verlassen mussten, wird die Frage, ob sie an die alten Wohnorte zurückkehren oder sich anderswo niederlassen sollten, mehr und mehr von den wirtschaftlichen Aussichten bestimmt, und unter denjenigen, die während der Konflikte nicht vertrieben wurden, wird der Trend zu interner oder externer Emigration in naher Zukunft nicht nachlassen.

Die Dynamik der Bevölkerungswanderungen ist vielfältig und komplex. Vielerorts zieht es die Menschen aufgrund des dort eher vorhandenen privatwirtschaftlichen Wachstums und internationaler Investitionen in die regionalen Hauptstädte und Verwaltungszentren. Andernorts ziehen Menschen aus Industriestädten zurück in die Dörfer, die von ihren Familien vor einer Generation verlassen wurden, weil dort die Lebenshaltungskosten geringer sind und die Subsistenzlandwirtschaft Möglichkeiten zum Überleben bietet, die in urbanen Gebieten nicht vorhanden sind. Aufgrund seines miserablen Zustands hat der landwirtschaftliche Sektor jedoch kaum Kapazitäten, die Arbeitslosen aufzunehmen. Die wirtschaftlichen Anreize, Landwirtschaft zu betreiben, sind derart gering, dass ein großer Teil der landwirtschaftlichen Nutzfläche der Region mittlerweile völlig brachliegt.

Die andere Tendenz in der Bevölkerungsbewegung ist das Verlassen der Region insgesamt. Zielrichtung ist zum größten Teil die Europäische Union, entweder permanent oder in Form von Gastarbeit. In großen Teilen der Region ist Emigration der einzige Ausweg für die Jungen und die Arbeitslosen, und so lange der wirtschaftliche Niedergang anhält, wird dieser Druck nur noch wachsen. Interessanterweise gibt es Gegenden in der Region, wo Überweisungen von den im Ausland arbeitenden Familienmitgliedern oder deren während des Sommerurlaubs ausgegebenes Geld nicht nur den Lebensunterhalt zahlloser Familien sichert, sondern auch die wichtigste potentielle Quelle von Investitionskapital ausmacht. Die Auswirkungen von Migration auf Mikroökonomien ist ein eigenartigerweise noch viel zu wenig erforschtes Phänomen, doch scheint es eine der wenigen exogenen Schockwirkungen darzustellen, die den Zyklus von Unterentwicklung in vielen Gemeinden brechen könnten.

Die Krise der politischen Repräsentation

Diese sozialen und wirtschaftlichen Trends setzten die politischen Prozesse in der gesamten Region unter Druck. In seinem kürzlich veröffentlichten Arbeit über den Zustand der Demokratie in Südosteuropa beschreibt Ivan Krastev "die wachsende Kluft zwischen den Bevölkerungen und ihren Eliten sowie das zunehmend mangelnde Vertrauen der Öffentlichkeit in die demokratischen Institutionen" als die "auffälligsten politischen Tatsachen im heutigen Balkan." Diese tiefe Unzufriedenheit mit den demokratischen Prozesse manifestiert sich in der von Wahl zu Wahl weiter sinkenden Wahlbeteiligung und dem immer wiederkehrenden Phänomen der Abwahl von Regierungen nach der ersten Legislaturperiode, unabhängig von der geleisteten Regierungsarbeit.

Nirgendwo in der Welt gab es so umfassende internationale Aktivitäten zur Demokratisierung wie auf dem Balkan. Nun ist es an der Zeit, eine Bilanz der Ergebnisse zu ziehen. Wie Thomas Carothers schrieb, "ist es nicht genug, ein Sammelsurium an Demokratieprogrammen anzubieten, in der vagen Annahme, dass die schon alle zu dem erhofften Konsolidierungsprozess beitragen werden". Es besteht ein offensichtlicher Bedarf, die Verbindung zwischen Demokratisierungsprogrammen und anderen Hilfsformen erneut zu untersuchen.

Der Kollaps der industriellen Gesellschaft und das Gefühl der Haltlosigkeit, das dieser in der Bevölkerung verursacht hat, können das Ausmaß der Politikverdrossenheit weitgehend erklären. Es gibt kaum einen Haushalt, der nicht eine dramatische Senkung des Lebensstandards hinnehmen musste. Dieser Niedergang setzte während der achtziger Jahre ein und begann schnell, das Vertrauen in den jugoslawischen Sozialismus zu untergraben. Er unterminiert heute das Vertrauen in die Fähigkeit der neuen Eliten und der demokratischen Institutionen, fundamentale wirtschaftliche Sicherheit zu schaffen. Kurz- bis mittelfristig bestehen offensichtliche Grenzen für den Handelsspielraum einzelner Regierungen, diesen Trend umzukehren.

Internationale Interventionsstrategien in der Region haben die dahingehenden Möglichkeiten der repräsentativen Institutionen noch weiter eingeschränkt. Da der größte Teil der Investitionsausgaben von Geberländern bestritten wird, werden die Prioritäten außerhalb der Region gesetzt. In Bosnien und im Kosovo werden nahezu sämtliche "Reformgesetze" von Ausländern gemacht und per Erlass verfügt. Sogar die Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen, das Ergebnis von Verhandlungen zwischen den einzelnen Regierungen und der Europäischen Kommission reflektieren externe Prioritäten und schweigen sich zu Fragen der sozialen und wirtschaftlich Kohäsion oder Entwicklung weitgehend aus. Eine vor kurzem durchgeführte Auswertung der Landesstrategie der Europäische Kommission für Mazedonien kommt zu dem Schluss, dass die bestehenden Prioritäten "nicht auf einer spezifischen Bewertung" der mazedonischen Lage basieren. Die hauptsächliche Empfehlung dieser Auswertung an die Kommission ist, statt der Anpassung an europäische Normen die jetzige Entwicklung zu unterstützen: "Eine weitaus effektivere Strategie zur Durchsetzung der politischen Ziele der EU wäre es jedoch, die soziale und wirtschaftliche Entwicklung der Ehemaligen Jugoslawischen Republik Mazedonien zu unterstützen, die letztendlich ohnehin zur Integration in die EU führen würde."

Während die Kommission in Albanien eine riesige Infrastrukturkrise in den Bereichen Energie- und Wasserversorgung, dem Transportwesen und dem landwirtschaftlichen Sektor festgestellt hat, konzentrieren sich die mehrjährigen Programme für den Zeitraum 2002-2004 hauptsächlich auf die Bekämpfung des organisierten Verbrechens, des Betrugs und der Korruption. Vom jährlichen CARDS-Budget für Albanien werden nur zehn Millionen Euro für die Verbesserung der Infrastruktur aufgewendet. Auf diese Weise entsteht ein Teufelskreis: Je schwächer die nationalen Regierungen werden, desto mehr versuchen außenstehende Organisationen, ihre eigenen Auffassungen politischer Prioritäten durchzusetzen, woraufhin die Regierungen noch weniger auf die Bedürfnisse ihrer Wählerschaften eingehen können.

Aus all diesen Gründen erscheint Politik im gesamten Südosteuropa oft seltsam substanzlos, voller Politiker, die sich kaum in den Bereichen engagieren, die für das tägliche Leben der Wählerschaft von offensichtlicher Bedeutung sind. Es besteht ein deutlicher Anreiz für die politische Elite, die öffentliche Agenda mit anderen Fragen zu füllen, auf unterschwellige historische Streitigkeiten oder Identitätsfragen zurückzugreifen oder Anschuldigungen auf Korruption mit der Opposition auszutauschen. Thomas Carothers hat solche Demokratien als "kraft- und ziellos" charakterisiert.

"Der Machtwechsel scheint einzig den Zweck zu verfolgen, die Probleme des Landes von einer glücklosen politischen Kraft an die nächste weiterzureichen. Die politischen Eliten sämtlicher großer Parteien werden meist als korrupt, egoistisch, unehrlich und nicht ernsthaft an der Arbeit für ihr Land interessiert angesehen. Die Öffentlichkeit fühlt sich der Politik entfremdet, und ist, auch wenn sie möglicherweise noch an die Ideale der Demokratie zu glauben vermag, außerordentlich unglücklich über die politische Situation im eigenen Lande."

Ohne einen gesunden produktiven Wirtschaftssektor sind die Möglichkeiten des Staates, eine moderne Verwaltung aufzubauen und seinen Bürgern ein soziales Sicherheitsnetz zu bieten, stark eingeschränkt. Der Mehrheit der Bürger, die nicht "vom Budget" leben, erscheint der Staat fern, fremd und für die Belange des Alltags größtenteils irrelevant. In ländlichen Gebieten, aufgrund der ererbten ungleichmäßigen Verteilung von Institutionen und Infrastruktur, ist der Staat unter Umständen tatsächlich abwesend. Unter solchen Umständen neigen die Aktivitäten des privaten Sektors dazu, in die graue Wirtschaft abzudriften, wenn Unternehmen unwillig sind, für unzureichende öffentliche Dienste hohe Steuern zu entrichten. Dem Staat fehlen dann zunehmend sogar die grundlegendsten Informationen darüber, wie seine Bürger in der realen Wirtschaft überleben.

Die Zukunft der europäischen Unterstützung

Diese Analyse der "Krise des Jahres 2004" beinhaltet klare Schlussfolgerungen für die zukünftige europäische Strategie in der Region. Durch die europäische Unterstützung der letzten Jahre wurden immense Fortschritte gemacht. Auf längere Sicht kann Stabilität jedoch ohne Entwicklung nicht erhalten bleiben. Es kommt zu einer wachsenden Krise der politischen Repräsentation, weil schwache und an Mitteln arme öffentliche Institutionen außer Arbeitsplätzen für die eigenen Angestellten kaum etwas einbringen können und daher zunehmend als irrelevant oder gar parasitär betrachtet werden. Zudem besteht die Gefahr, dass die gegenwärtigen Verteilungsmuster der internationalen Hilfe zu der Krise beitragen, indem sie einheimische Ausgabeprioritäten und politische Prozesse verzerren.

Aus diesen Gründen bleibt das der Region gegebene Versprechen der "Zielrichtung Europa" eigenartig inhaltsleer. Es besteht weitgehendes Einverständnis, dass die Staaten des westlichen Balkans sehr lange benötigen werden, ehe sie die Regeln des gemeinsamen europäischen Markts auf relevante Art und Weise übernehmen können. Abgesehen von Kroatien als möglicher Ausnahme haben sie keinerlei Aussicht auf eine baldige Eröffnung formeller Beitrittsverhandlungen mit der Europäischen Union. Unabhängig von ihrem formellen Status im Stabilisierungs- und Assoziierungsprozess sehen sie einer drastischen Verringerung der Hilfszahlungen entgegen. Am schwersten wiegt jedoch die Tatsache, dass sie von dem größeren europäischen Projekt zur Stärkung der wirtschaftlichen und sozialen Kohäsion des Kontinents ausgeschlossen bleiben.

Wie schon in den Römischen Verträgen steht, ist die Förderung einer harmonischen Entwicklung in der gesamten Europäischen Union durch die Stärkung der wirtschaftlichen und sozialen Kohäsion eines der Hauptziele der EU. Zu diesem Zweck wurden die Struktur- und Kohäsionsfonds entwickelt, die, gemeinsam mit den Regeln des gemeinsamen europäischen Marktes (dem acquis communautaire) das Herzstück der europäischen Integration darstellen. Diese Politikinstrumente wurden aufgrund der Erkenntnis entwickelt, dass die Schaffung eines gemeinsamen Markts ohne den Einsatz erheblicher Entwicklungsressourcen nicht ausreicht, um die Unterschiede in der regionalen Entwicklung auszugleichen. In den Worten der Kommission ist der einzige Weg, Konvergenz zu sichern, "eine Veränderung der zugrunde liegenden Bedingungen an sich und der relativen Faktorausstattungen (in Bezug auf jedwede Art von Kapital und die unterschiedlichen Fähigkeitsniveaus der Erwerbsbevölkerung). Das hauptsächliche Ziel der regionalen und strukturellen Politik besteht ausdrücklich in der Hervorbringung einer solchen Veränderung." Die Auswirkungen der strukturellen Hilfen für Griechenland, Irland, Spanien, Portugal und Süditalien sind immens.

Kohäsionspolitik zielt auf höheres wirtschaftliches Wachstum durch gesteigerte Investitionen ab. Kohäsionspolitik ist keine Sozialpolitik und befasst sich nicht in erster Linie mit Konsumsteigerung oder Einkommensumverteilung. Ihr Ziel besteht in der Steigerung der Produktivität, bestimmt durch die Qualität des Humankapitals, der Ausstattung der physikalischen Infrastruktur und der Innovationskapazität.

Ein Schlüsselprinzip hinter den Strukturfonds ist die Zusätzlichkeit. Projekte, die aus den Strukturfonds unterstützt werden, müssen aus nationalen Quelle kofinanziert werden. Dadurch wird sichergestellt, dass die europäischen Gelder einheimische Investitionskapazitäten ergänzen, nicht ersetzen. Strukturelle Eingriffe der Europäischen Union erfordern zudem eine wesentliche Beteiligung der örtlichen und regionalen Behörden an der Auswahl der Projekte und dem Setzen von Prioritäten. Dies kann erhebliche Auswirkungen auf die Verwaltungsstruktur der Mitgliedsstaaten haben. In Griechenland und Großbritannien, zwei der am stärksten zentralisierten Länder der Union, führte diese Vorgehensweise zu einer wesentlichen Dezentralisierung in Bezug auf die Verantwortlichkeiten im Bereich der regionalen wirtschaftlichen Entwicklung. In Griechenland stellte die Einsetzung von Ausschüssen zur Überwachung der integrierten Entwicklungsprogramme "eine bedeutende administrative Innovation" dar:

"Zum ersten Mal erhält eine Instanz, die weder ein zentrales Ministerium noch ein öffentliches Unternehmen ist, die Verantwortung für die Durchführung eines mehrjährigen, aus mehreren Projekten bestehenden Programms. Örtliche Vertretung, geographische Dezentralisierung, finanzielle Autonomie und die Verpflichtung, die örtliche Bevölkerung zu informieren und zu gewinnen, sind völlig neue Konzepte für griechische Planungsverfahren."

Die erste regionale Entwicklungsplanung in Griechenland wurde kurz vor dem Eintritt in die Europäische Gemeinschaft begonnen. Ilias Plaskovitis schreibt: "Wenn die Aussicht auf Mitgliedschaft in der EG auch keine Revolution in der Einstellung der griechischen Regierung auslöste, begannen jedoch die Dynamik der Integration und, insbesondere, die Umsetzung der EG-Strukturpolitik, Veränderungen in der Regierungspraxis zu erzwingen."

In der Regel besteht auch eine Verpflichtung, Projekte so zu entwickeln, dass örtliche Partnerschaften mobilisiert werden. Dieses Prinzip wurde beständig ausgeweitet - von der Einbeziehung regionaler und örtlicher Behörden in der Periode von 1989 bis 1993, über die Einbeziehung sozialer Partner in der Periode von 1994 bis 1999, bis hin zu der vorgesehenen Einbeziehung von Vertretern verschiedenster anderer Gruppen im Zeitraum von 2000 bis 2006. Wo immer solche Programme erfolgreich betrieben wurden, haben sie die Einstellung der Bürger zur Union verbessert.

Diese besonderen Charakteristika der Strukturfonds innerhalb der Europäischen Union sind genau die Eigenschaften, die der gegenwärtigen europäischen Hilfe für die westlichen Balkanländer fehlen. Die Methodologie der Strukturfonds war auf die Bewältigung der Probleme des industriellen Niedergangs und der ländlichen Unterentwicklung ausgerichtet. Das Prinzip der Zusätzlichkeit wurde adoptiert, um Verzerrungen im inländischen Ausgabeverhalten zu vermeiden. Die Vorgehensweise für die Auswahl der Projekte wurde auf die Stärkung der örtlichen und regionalen Regierungskapazität ausgerichtet, und darauf, einheimische Behörden zu ermutigen, die eigenen Bedürfnisse zu ermitteln und in die Planung einzubeziehen. Die Herausforderungen, denen die Balkanstaaten in der nahen Zukunft ausgesetzt sind, unterscheiden sich nicht wesentlich von denjenigen, die die Europäische Union auf dem eigenen Territorium schon seit vielen Jahren bewältigen muss.

Die Europäische Union und das kritische Jahr 2004

Der Fortschritt in Richtung sozialer und wirtschaftlicher Kohäsion in Europa und die Einbindung von aus Diktatur und Isolation hervorgetretenen Gesellschaften (Griechenland, Spanien, Portugal) gehören zu den größten Errungenschaften der Union,  die sich nun auf das noch ehrgeizigere Projekt der Erweiterung ihrer Zone der wirtschaftlichen Stabilität und Entwicklung auf die neuen Mitgliedsstaaten vorbereitet.

Während die Union jedoch ihr Streben nach wirtschaftlicher und sozialer Kohäsion gen Osten ausdehnt, wird der Region mit den größten Konzentrationen an europäischen Polizisten, Friedenstruppen, Verwaltern und Beratern, die sämtlich die Stabilität der Region zu fördern suchen, zu wenig Aufmerksamkeit zuteil. Der Kommissar für EU-Erweiterung erklärte jüngst vor dem europäischen Parlament, dass "die Erweiterung nicht abgeschlossen sein wird, ehe nicht auch Bulgarien und Rumänien in dieser Kammer vertreten sind." Die Financial Times bemerkte, dass dies nicht gerade ein gutes Omen für die Türkei darstelle. Die Länder des westlichen Balkans fanden nicht einmal Erwähnung. Sofern sich die europäische Strategie nicht ändert, werden sich die regionalen Ungleichheiten zwischen Europas 27 bestehenden und künftigen Mitgliedern und den fünf Staaten des westlichen Balkans in den kommenden Jahren erheblich vertiefen.

Die Hilfszahlungen an die Länder des westlichen Balkans im Rahmen des CARDS-Programms der Europäischen Union waren stark auf die Anfangsjahre des Programms konzentriert und werden nun dramatisch verringert. Von 2004 bis 2006 werden die meisten Länder in der Region relativ wenig Unterstützung von der EU erhalten, unabhängig von den unternommenen politischen oder institutionellen Reformen und ihren Fortschritten im Stabilisierungs- und Assoziierungsprozess. Wenn sich nichts ändert, wird es auch wenig Rücksichtnahme auf die Bedürfnisse der Region im nächsten Programmzyklus (2007-13) geben. Der Balkan wird weiterhin auf das Budget für Entwicklungs- und humanitäre Hilfe angewiesen sein und sich in Konkurrenz zu den Ländern des südlichen Mittelmeers, des Nahen Ostens und den neu auftretenden Krisengebieten in aller Welt befinden.

Tabelle 1: Hilfszahlungen der Europäischen Union an die Länder des westlichen Balkans
2000-2006 CARDS-Budget (in €)

 

2000

2001

2002

2003

2004

2005

2006

Albanien

35

37

45

 

 

 

 

BiH

101

104

72

63*

58*

 

 

Kroatien

22

60

59

 

 

 

 

Mazedonien
 

21

56

41

 

 

 

 

Serbien/
Montenegro/
Kosovo

650

385

350

305*

250*

 

 

Gesamtbetrag*

956

903

766

700

600

500

500*

 

* Schätzungen basierend auf Befragungen von internationalen Vertretern in Kosovo und Bosnien.

 

Die in der Zwischenzeit verfügbaren Hilfszahlungen werden keine Kofinanzierung zur Bedingung machen,  keine Stärkung der örtlichen und regionalen Regierung zur Folge haben  und keine regionalen Entwicklungspläne oder Partnerschaften erfordern. Der größte Teil der Zahlungen wird noch nicht einmal direkt für die Förderung der Beschäftigungszunahme oder der Infrastruktur vorgesehen sein. Das CARDS-Programm beinhaltet keinerlei Verpflichtung, weder implizit noch explizit, die Region beim wirtschaftlichen Aufschluss an die erweiterte Europäische Union zu unterstützen.

Im Gegensatz dazu hat sich die EU zu wachsender Unterstützung der neuen Mitgliedsstaaten sowie Rumäniens, Bulgariens und der Türkei fest verpflichtet. Die vor dem Beitritt erfolgende Unterstützung der zehn Beitrittskandidaten in Zentral- und Osteuropa beläuft sich auf drei Milliarden Euro pro Jahr. Zwischen 2004 und 2006 soll das jährliche Budget für Struktur- und Kohäsionspolitik in den neuen Mitgliedsstaaten progressiv auf zwölf Milliarden Euro im Jahr 2006 steigen.

Ohne ein ernsthaftes Bekenntnis der Europäischen Union wird sich die westliche Balkanregion zunehmend von den sich in den sie umgebenden Ländern - von Slowenien über Ungarn, Rumänien und Bulgarien bis hin zu Griechenland im Süden - abspielenden Entwicklungen isoliert sehen. Die Fähigkeit der Region, sich dem europäischen Projekt anzuschließen, wird mehr und mehr schwinden. Während im erweiterten Territorium der Europäischen Union Ziele wie wirtschaftliche Kohäsion, Entwicklung und Arbeitsmobilität verfolgt werden, wird sich der Schwerpunkt auf dem Balkan auf die Themen Verbrechen, Korruption und Grenzverwaltung verengen. Sollte dies Europas einzige Antwort auf die Krise des Jahres 2004 sein, dann wird der Balkan mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Insel der Instabilität im Zentrum Europas bleiben, deren Exporte aus Gastarbeitern und deren Importe aus Friedenstruppen bestehen.

Eine Agenda für Veränderung

Es besteht jedoch die zeitlich begrenzte Chance im Jahr 2003, dem europäischen Projekt in den Ländern des westlichen Balkans neuen Auftrieb zu geben:

  • Die Europäische Union könnte, unter der griechischen und der italienischen Präsidentschaft, den Entschluss fassen, auf den Erfolgen (und Investitionen) bei der Stabilisierung der Region im vergangenen Jahrzehnt aufzubauen, indem sie den Stabilisierungs- und Assoziierungsprozess in einen rahmen für Kohäsionspolitik umwandelt. Eine Gipfelkonferenz mit den Ländern der Region könnte deutlich machen, dass das Ziel der Stärkung der wirtschaftlichen und sozialen Kohäsion Europas auch die Länder des westlichen Balkans einschließt.
  • Die Europäische Union könnte die Europäische Agentur für Wiederaufbau in eine Europäische Agentur für Entwicklung umwandeln, deren Arbeit sich unter einem veränderten Mandat auf alle Staaten der Region erstrecken würde. Der Stabilitätspakt könnte zu einem Beschäftigungs- und Kohäsionspakt werden. Es bestünde auch die Möglichkeit, dass die Union diese nachkonfliktlichen Initiativen auslaufen lässt und deren Ziel mit der Entwicklung der Balkanstaaten zu Kandidaten für die EU-Mitgliedschaft für erreicht erklärt.
  • Die Staaten des westlichen Balkans könnten gemeinsam mit Rumänien, Bulgarien und der Türkei unter die Verantwortlichkeit eines Direktorats für EU-Erweiterung nach 2004 gestellt werden. Wie im Falle der Türkei würde dies die Europäische Union nicht dazu verpflichten, tatsächliche Beitrittsverhandlungen zu beginnen, bevor diese Länder nicht bereit und in der Lage wären, den acquis communautaire, umzusetzen, wie lange dies auch dauern mag. In jeder anderen Hinsicht, einschließlich der Berechtigung zu fokussierten strukturellen Eingriffen, würden die Länder des westlichen Balkans als Teil der europäischen Familie behandelt.
  • Dieses Vorgehen würde auch die Position der Europäischen Union in der Verfolgung ihrer Ziele zur Einsetzung einer Rechtsordnung und der Bekämpfung des organisierten Verbrechens immens verbessern. Weiterhin würde damit gesichert, dass die beeindruckenden politischen und diplomatischen Erfolge der gemeinsamen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik in der Region in den letzten Jahren erhalten blieben.
  • Während sie das für die Zeit nach dem Wiederaufbau ausgerichtete CARDS-Programm zu einem Abschluss bringt, könnte die Europäische Union bereits neue Politikinstrumente für strukturelle Eingriffe in den Ländern des westlichen Balkans für den Zeitraum von 2004 bis 2006 entwickeln. Dabei könnten die in der breiten Palette an Beitrittsprogrammen für die zehn Kandidaten in bezug auf Landwirtschaft, Umwelt, Transport, soziale Einbeziehung und Beschäftigung gesammelten Erfahrungen unter Beibehaltung der Kernprinzipien Kofinanzierung, Partnerschaft und Auswertung genutzt werden. Außerdem könnte das bereits in der Region befindliche, beträchtliche Humankapital genutzt werden, insbesondere in der Europäischen Agentur für Wiederaufbau, dem EU-Pfeiler der Mission der Vereinten Nationen zur Übergangsverwaltung des Kosovo und dem Büro des Hohen Repräsentanten.
  • Nach dem Beitritt der zehn Kandidaten im Jahr 2004 werden bis zum Ende der Haushaltsperiode der EU im Jahr 2006 nur noch Bulgarien und Rumänien für Zuteilungen aus dem Drei-Milliarden-Euro-Budget für potentielle Beitrittskandidaten berechtigt sein. Es bestünde also die Möglichkeit, einen Teil der Mittel aus diesem Budget für gezielte Kohäsionspolitik in den Ländern des westlichen Balkans aufzuwenden.
  • Den Ländern des westlichen Balkans wurde eine solche Zukunft auf der Gipfelkonferenz Zagreb I im November 2000 in Aussicht gestellt. Die Gipfelkonferenz Zagreb II während der griechischen EU-Präsidentschaft könnte diese Ziele ein großes Stück vorantreiben.